Conversational Time Travel: Evidence of a Retrospective Bias in Real Life Conversations
Wir untersuchten mentale Zeitreisen, die sich in den Äußerungen von Personen in Gesprächen des realen Lebens widerspiegeln, mit Hilfe einer naturalistischen Beobachtungsmethode: Elektronisch aktivierter Rekorder (EAR, ein tragbarer Audiorekorder, der periodisch und unauffällig Schnipsel von Umgebungsgeräuschen und Sprache aufnimmt). Wir führten den Begriff der Zeitreise in Gesprächen ein und untersuchten zum ersten Mal, wie viel Personen über ihre persönliche Vergangenheit und ihre persönliche Zukunft im wirklichen Leben sprachen. Studie 1 umfasste 9.010 Tondateien von 51 amerikanischen Erwachsenen, die das EAR über ein Wochenende trugen und alle 9 Minuten 50 Sekunden lang aufgezeichnet wurden. Studie 2 umfasste 23.103 Tondateien von 33 jungen und 48 gesunden älteren Erwachsenen aus der Schweiz, die das EAR vier Tage lang trugen (zwei Wochentage und ein Wochenende, ausgeglichen). Die 30-s-Aufnahmen wurden nach dem Zufallsprinzip über den Tag verteilt. Wir entwickelten ein neues Kodierungsschema für Zeitreisen in Gesprächen: Wir hörten uns alle Tondateien an und kodierten jede Datei danach, ob der Teilnehmer sprach oder nicht. Diejenigen Tondateien, die eine Rede des Teilnehmers enthielten, wurden auch hinsichtlich ihres zeitlichen Fokus (z. B. Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, zeitunabhängig) und ihres autobiografischen Charakters (d. h. über sich selbst, über andere) kodiert. Zunächst überprüften wir unser Kodierungsschema mithilfe des Textanalysetools Linguistic Inquiry und Word Count. Anschließend verglichen wir den prozentualen Anteil vergangenheits- und zukunftsorientierter Äußerungen über das Selbst (um die Zeitreise im Gespräch zu erfassen). Die Ergebnisse waren über alle Stichproben hinweg konsistent und zeigten, dass die Teilnehmer zwei- bis dreimal so oft über ihre persönliche Vergangenheit wie über ihre persönliche Zukunft sprachen (d. h. retrospektive Verzerrung). Dies steht im Gegensatz zu Forschungsergebnissen, die eine prospektive Voreingenommenheit im Denkverhalten auf der Grundlage von Selbstauskünften und Methoden der Erfahrungsstichprobe belegen. Die Ergebnisse werden im Zusammenhang mit den sozialen Funktionen des Erinnerns an die persönliche Vergangenheit (z. B. Austausch von Erinnerungen, um sich mit anderen zu verbinden, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen, zu lehren, Ratschläge zu erteilen) und mit den direktiven Funktionen des zukunftsorientierten Denkens (z. B. Planung, Entscheidungsfindung, Zielsetzung, die eher im privaten Bereich stattfinden) diskutiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die retrospektive Verzerrung bei der Zeitreise in Gesprächen ein funktionales und universelles Phänomen ist, das bei allen Personen und in allen Situationen des realen Lebens auftritt.
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