Warum Deutschland ein weißer Fleck auf Google's Street View ist

  • Seit dem Start im Jahr 2007 hat Google Street View Millionen von Kilometern an Straßen auf der ganzen Welt kartiert – und ist sogar bis in den Weltraum und in den Ozean vorgedrungen.
  • Deutschland und Österreich sind eine auffällige Lücke im Durcheinander der blauen Linien, die den Rest Europas abdecken.
  • Das hat mit dem merkwürdigen Sinn der Deutschen für Privatsphäre zu tun: Sie stellen lieber ihr Geschlechtsteil zur Schau als ihre persönlichen Daten.

Regionen unbekannt

Karte, die die Abdeckung von Google Street View in Europa zeigt, mit Deutschland und Österreich als krasse Ausnahmen in der Mitte, aber auch mit Weißrussland, Moldawien und Bosnien-Herzegowina, die fast vollständig fehlen.

Bild: Google Maps

Die einzigen anderen europäischen Länder, die noch nicht kartiert sind, sind Weißrussland, Moldawien und Bosnien

Ziehen Sie in Google Maps den Pegman über Europa, und Sie werden ein merkwürdiges Bild sehen: fast der gesamte Kontinent ist von den blauen Linien bedeckt, die anzeigen, dass Street View verfügbar ist – aber Deutschland und Österreich sind fast vollständig leer.

Dieses Bild erinnert an die Afrika-Karten aus dem späten 19. Jahrhundert, bei denen die Mitte des Kontinents leer gelassen und mit „Unbekannte Regionen“ markiert wurde. Deutschland und Österreich gehören zu den fortschrittlichsten Volkswirtschaften der Welt. Warum also finden Googles Kameraautos diese Länder so unzugänglich und/oder unwirtlich, wie die europäischen Entdecker das Innere Afrikas vorfanden?

Weil die Deutschen bekanntlich eifersüchtig auf ihre Privatsphäre sind – eine Haltung, die auch bei ihren kulturell nahen Nachbarn in Österreich anklingt. Aber es kommt darauf an, was man unter „Privatsphäre“ versteht. Zum Beispiel sind die Deutschen nicht so privat, was ihr Geschlechtsteil angeht.

Totalitäre Traumata

Bild: FKK Gelande Sudstrand / CC BY 2.0

„Soziale Nacktheit“, die der Gesundheit, der Vitalität und der Verbundenheit mit der Natur dient, ist in Deutschland sehr akzeptiert.

Während öffentliche Nacktheit zum Beispiel in den USA ein großes Tabu ist, hat in Deutschland die sogenannte FKK – kurz für Freikörperkultur – eine lange Tradition. Bestimmte Strände und Bereiche von Stadtparks sind dem Nacktsonnenbad gewidmet, und sogar Nacktwanderungen sind eine Sache.

Auf der anderen Seite sind die Deutschen extrem besitzergreifend, was ihre persönlichen Daten angeht – und sind schockiert über die Bereitschaft, mit der Amerikaner (und andere) ihre Namen, Adressen, Freundeslisten und Kaufhistorien online weitergeben.

Nach Untersuchungen, die in der Harvard Business Review vorgestellt wurden, ist der durchschnittliche Deutsche bereit, bis zu 184 Dollar für den Schutz seiner persönlichen Gesundheitsdaten zu zahlen. Für den durchschnittlichen Briten ist der Schutz dieser Informationen nur 59 Dollar wert, für Amerikaner und Chinesen sinkt dieser Wert auf einen einstelligen Betrag.

Warum? Weil die Deutschen das Trauma nicht nur eines, sondern zweier totalitärer Systeme in ihrer jüngsten Vergangenheit tragen: das faschistische Dritte Reich und die kommunistische DDR.

Nie wieder

Bildquelle: Rakoon / CC0 1.0

Stasi-Abhörstation, die zur Bespitzelung der eigenen Bürger genutzt wurde, im DDR-Museum Berlin

Beide Regime wollten die totale Kontrolle über ihre Bürger. In der Nazizeit hieß das stumpfe Instrument des Staates Gestapo (kurz für Geheime Staatspolizei), in der DDR war es die Stasi (kurz für Staatssicherheit).

In beiden Systemen hatten die Bürger praktisch kein Recht mehr auf Privatsphäre und konnten für private Gedanken oder Handlungen als Verbrecher gebrandmarkt werden, was zu schweren Strafen führte.

Wie bei vielen anderen Aspekten des Nazi-Regimes beschloss das Nachkriegsdeutschland „Nie wieder“, wenn es um die Verletzung der Privatsphäre ging. Das ist einer der Gründe, warum der allererste Artikel der (damals noch westdeutschen) Nachkriegsverfassung lautet:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Informatorische Selbstbestimmung

Logo für die Allgemeine Datenschutzverordnung der Europäischen Union (DSGVO)

Bild: Dooffy / CC0 1.0

Die im Mai 2018 verabschiedete EU-Datenschutz-Grundverordnung (GDPR) baut auf Deutschlands Tradition strenger Datenschutzgesetze auf

Im Laufe der Jahrzehnte hat Deutschland seine Definition von Privatsphäre erweitert und vertieft.

  • Im Jahr 1970 verabschiedete das deutsche Bundesland Hessen das erste Datenschutzgesetz der Welt.
  • Im Jahr 1979 legte die Bundesrepublik Deutschland den Grundstein für das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), dessen Hauptziel es war, die Unverletzlichkeit persönlicher, privater Informationen zu schützen.
  • In den 1980er Jahren verklagten Bürger die Regierung erfolgreich wegen eines Volkszählungsfragebogens, der so detailliert war, dass die Regierung Einzelpersonen identifizieren konnte. Das Gericht erkannte das Recht der deutschen Bürger auf „informationelle Selbstbestimmung“ an und untersagte die Weitergabe persönlicher Daten an Behörden oder Unternehmen.
  • Im März 2010 kippte das deutsche Bundesverfassungsgericht ein Gesetz, das es den Behörden erlaubte, Telefon- und E-Mail-Daten aus Sicherheitsgründen bis zu sechs Monate lang zu speichern, als „schwerwiegenden Eingriff“ in die persönlichen Datenschutzrechte.
  • Im Mai 2018 verabschiedete die EU die Allgemeine Datenschutzverordnung (GDPR), die dem deutschen Modell der Datenhoheit folgt und nicht dem laxeren amerikanischen.

Den Zug verpassen

Bild: TeaMeister / CC BY 2.0

Deutschland ist Hightech, wenn es um den Verkehr geht – Autos, Züge – aber wenn es um die Digitalisierung geht, nicht so sehr

Ausländische Firmen, die in Deutschland tätig sind, müssen sich auf einige der strengsten Datenschutzgesetze der Welt einstellen. Doch „Nie wieder“ ist in einer Welt, in der Daten zunehmend ausgewertet und monetarisiert werden, nur schwer einzuhalten. Das unaufhaltsame Voranschreiten der Digitalisierung wird daher mit einer Mischung aus Fatalismus und Misstrauen betrachtet.

Beispiel eins: Deutschlands gespaltene Persönlichkeit, wenn es um soziale Medien geht. Ja, die Deutschen sind instinktiv misstrauisch gegenüber großen Tech-Unternehmen wie Google und Facebook. Inzwischen hat Google mehr als 90 Prozent des Suchmaschinenmarktes in Deutschland erobert, und fast die Hälfte aller Deutschen hat ein Facebook-Konto.

Zweites Beispiel: Datenschutz übertrumpft Effizienz. Während sich Deutschlands Makroökonomie auf Hightech stützt, um seine globale Spitzenposition zu halten, ist auf mikroökonomischer Ebene das gute alte Bargeld immer noch König. Im Jahr 2016 wurden 80 Prozent aller Kassentransaktionen in Deutschland mit Scheinen und Münzen und nicht mit Karten abgewickelt. In den Niederlanden waren es nur 46 Prozent.

Briten, Dänen oder Schweden können monatelang ohne Bargeld auskommen. In Deutschland hält man es nicht einen Tag aus. Warum das so ist? Auch hier ist es der starke Wunsch nach Privatsphäre und das instinktive Misstrauen gegenüber Überwachung. Eine bargeldlose Gesellschaft wäre transparenter und effizienter, aber auch viel weniger privat.

Wenn es eine Sache gibt, die die Deutschen noch mehr schätzen als Effizienz, dann ist es – Sie haben es erraten – die Privatsphäre. Deutschland scheint es nicht eilig zu haben, auf den Digitalisierungszug aufzuspringen, während andere Länder schon weiter sind und messbare Vorteile erzielen.

„Eine millionenfache Verletzung“

Bild: Google Maps

Die größeren deutschen Städte sind kartiert – Köln, Frankfurt, Dresden und andere – aber der Rest des Landes ist ein unbeschriebenes Blatt, verglichen mit den Benelux-Ländern und Frankreich (im Westen) und der Tschechischen Republik (im Osten)

Beispiel: Das deutsche Debakel von Google Street View. Google Street View wurde 2007 in den USA eingeführt und hat sich seither mit seinen interaktiven Straßenpanoramen auf fast die ganze Welt ausgedehnt.

Im Juni 2012 waren 5 Millionen Straßenkilometer in 39 Ländern kartiert; zum 10-jährigen Jubiläum im Mai 2017 waren es 10 Millionen Meilen in 83 Ländern.

Street View zeigt Orte, die so weit abseits der ausgetretenen Pfade liegen wie die Internationale Raumstation, Gasförderplattformen in der Nordsee und die Korallenriffe von West Nusa Tenggara in Indonesien. Aber nicht die Weimarer Straße in Fulda, oder die meisten anderen normalen Straßen in Deutschland oder Österreich.

Nicht, weil wir es nicht versucht hätten. Im August 2010 kündigte Google an, dass es bis Ende des Jahres die Straßen der 20 größten deutschen Städte kartieren würde. Die Empörung war groß. Einige von Googles Kamerawagen wurden vandalisiert. Ein 70-jähriger Österreicher, der nicht fotografiert werden wollte, bedrohte den Fahrer eines solchen Wagens mit einer Gartenhacke.

Die damalige deutsche Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner nannte Googles „umfassende Fotooffensive“ einen „millionenfachen Eingriff in die Privatsphäre (…) Es gibt keinen Geheimdienst, der so ungeniert Fotos sammeln würde.“

Unscharfe Straße

\u200bEine zufällige Straße in einer der Städte, die von Street View im Jahr 2010 kartiert wurden, mit vielen unscharfen Häusern

Bild: Google Maps

Eine zufällige Straße in einer der Städte, die 2010 von Street View kartiert wurden, mit vielen unscharfen Häusern

Google verwischt automatisch Gesichter und Kfz-Kennzeichen und auf Wunsch auch die Vorderseiten der Häuser. Ganze 3 Prozent der Haushalte in den betreffenden Gebieten beantragten, dass ihre Häuser unkenntlich gemacht werden. Angesichts dieses beispiellos großen Widerstands veröffentlichte Google 2011 die bereits gesammelten Daten, beließ es aber dabei. Seitdem wurden in Deutschland keine neuen Street-View-Bilder mehr aufgenommen.

Nachdem im Mai 2010 bekannt wurde, dass Google bei der Erstellung seiner Straßenpanoramen Daten aus unverschlüsselten Wifi-Verbindungen verwendet hatte, wurde Street View in Österreich verboten. Seit 2017 sammelt Google wieder Bilder in Österreich, ab 2018 sind sie für ausgewählte Orte verfügbar.

Wenn jüngere Generationen mit dem transaktionalen Aspekt ihrer persönlichen Daten vertrauter werden, wird sich die deutsche Einstellung zum Datenschutz vielleicht deutlich in Richtung des amerikanischen Modells verschieben.

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