Das Tier, das den Tod bringt

Kein anderes Tier in Madagaskar hat so viele Mythen und Märchen wie das Aye-Aye (Daubentonia madagascariensis). In der nördlichen Hälfte Madagaskars ist es fady, was so viel wie Tabu bedeutet. Leider bedeutet dieses Fady nicht, dass die Tiere von Madagassen nicht angefasst werden, wie zum Beispiel bei Chamäleons. Stattdessen glauben viele Bewohner Madagaskars, dass die Begegnung mit einem Aye-Eye Unglück oder sogar den Tod bringt. Wird ein Fingertier in einem Dorf oder auf einem Feld gesichtet (die Tiere haben eine Vorliebe für Mais, Zuckerrohr, Kokosnüsse und Mangos), versuchen viele Menschen, das Tier zu fangen und zu töten. Nur so lässt sich das folgende Unglück vermeiden. Das Sprichwort „Mangatambo hita, miseo tsy tsara“ (= Das Tier zu sehen ist nicht gut) ist vielen Einheimischen geläufig.

Aye-Aye
Männchen auf Beobachtungsposten

Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den Dörfern, Stämmen und Regionen, wann genau etwas passiert. In der nördlichsten Region Madagaskars glauben viele Madagassen, dass ein Aye-Aye, der das Dorf betritt, Unglück über die gesamte Dorfgemeinschaft bringt. Um dem zu entgehen, müssen die Menschen ihre Häuser verlassen. Dies scheint ein älterer Glaube zu sein, dem heute nicht mehr allzu viele anhängen. In den 1960er Jahren wurden jedoch solche verlassenen Dörfer dokumentiert. Einige Madagassen im Norden glauben immer noch, dass Aye-Ayes Menschenfresser sind, weshalb man sein Dorf nie im Dunkeln verlassen sollte.

Nordwestlich des Amber Mountain National Park gibt es mehrere Dörfer, in denen das Auftauchen von Aye-Ayes mit dem Tod eines Dorfbewohners in Verbindung gebracht wurde. Es wurde dann angenommen, dass eine ältere Aye-Aye im Dorf den Tod eines älteren Dorfbewohners vorhersagte, eine jüngere Aye-Aye den eines Kindes. In den Küstengebieten des hohen Nordens und entlang fast der gesamten Ostküste (Sambava, Antalaha, Maroantsetra, Mananara) glaubt man, dass die Begegnung mit einem Aye-Aye im Wald keine Folgen hat, da sich das Tier dort in seiner natürlichen Umgebung, seinem Zuhause, befindet. Wenn es jedoch den Wald verlässt und sich auf das Dach eines Hauses setzt, gilt dies als schlechtes Omen für die betroffene Familie. Innerhalb der nächsten Woche wird etwas Schlimmes passieren. In der Nähe von Andasibe, etwas weiter südlich an der Ostküste, besagt ein lokaler Mythos, dass man bereits stirbt oder krank wird, wenn ein Aye-Aye jemanden ansieht oder mit dem ausgestreckten Mittelfinger auf eine Person zeigt.

Fast überall kann das böse Schicksal nur durch das Töten des Aye-Aye aufgehalten werden. Die toten Tiere oder ihre Schwänze werden dann kopfüber an Stangen am Straßenrand aufgehängt. Auch über die Gründe für diesen Brauch gibt es unterschiedliche Meinungen: Die einen sagen, dass vorbeiziehende Fremde das Unglück des Tieres mitnehmen und es so weit weg vom Ort des Geschehens tragen. Andere behaupten, dass das Unglück erst außerhalb der Dorfgrenzen mit dem Tier zusammengebracht werden muss, um keinen Einfluss mehr auf die Bewohner zu haben.

Totes Aye-Aye, Foto: Thomas Althaus
Totes Aye-Aye an einem Pfahl am Straßenrand bei Ambanja
Bild: Thomas Althaus

Im Nordwesten Madagaskars und in der Nähe von Toamasina (Tamatave) gibt es vereinzelte Dörfer, die zu festlichen Anlässen sogar Aye-Aye verzehren. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Unglück zuvor durch magische Bräuche vertrieben wurde, zum Beispiel durch das Singen bestimmter Lieder oder das gleichzeitige Weinen aller Dorfkinder. Gelingt diese „Vertreibung des Bösen“ nicht, vergiftet der Verzehr des Tieres die Feiernden.

Jede Gegend hat ihre eigenen kleinen Legenden und Mythen über die Aye-Aye, leider sind nur wenige davon positiv. Interessant ist, dass die einheimischen Madagassen das Tier nicht einmal kannten, als die Aye-Aye im Ranomafana-Nationalpark südlich der Hauptstadt entdeckt wurden. Dementsprechend gab es auch noch keine Fadys. In Gebieten, in denen der Aye-Aye häufiger zu sehen ist, scheint die Angst vor dem Tier generell weniger ausgeprägt zu sein.

Kein anderer Lemur in Madagaskar hat einen so schlechten Ruf. Das ist nicht schwer zu verstehen, denn der nachtaktive Waldtroll mit seinen leuchtenden, gelben Augen, den vorstehenden Zähnen, dem extrem langen Mittelfinger und dem grauen, spröden Fell kann einem durchaus einen Schauer über den Rücken jagen, besonders nachts. Erst recht in einem Land wie Madagaskar, in dem viele Menschen nur wenig oder gar keinen Zugang zu Bildung haben. Hinzu kommt, dass Aye-Ayes im Gegensatz zu allen anderen Lemuren rein nachtaktiv sind und allein leben. Sie entsprechen daher nicht dem Bild des freundlichen Familientieres, das man mit vielen anderen Lemuren verbindet. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Madagassen das Tier nur aus Legenden kennen, denn die meisten Madagassen leben immer noch sehr einfach und richten ihre Aktivitäten nach der Sonne aus.

Aye-Aye
Beachten Sie die langen Mittelfinger dieses Weibchens

Aber wer mit dem Sonnenuntergang ins Bett geht, wird nur in Ausnahmefällen einem Aye-Aye begegnen. Und wenn er das tut, ist es für ihn mehr als beängstigend, wenn das neugierige Tier auch noch in seine Nähe kommt und nicht wegläuft. In einigen Gebieten Madagaskars findet man die von den Aye-Ayes bevorzugten Nüsse, die Ramys, oft in der Nähe von Gräbern, wo die Bäume wegen eines Fadens nicht gefällt werden dürfen. Es ist durchaus möglich, dass in diesen Regionen die Verbindung zwischen den Aye-Aye und dem Tod hergestellt wurde. Auch die Farbe Schwarz wird fast überall auf der Welt mit dem Bösen assoziiert, was einen schwarzen Lemur mit seltsamen Körperproportionen bei den Einheimischen sicher nicht sympathischer macht.

Es ist zu hoffen, dass mit zunehmender Bildung und Ökotourismus in Madagaskar auch die Einheimischen erkennen, was für einen einzigartigen Schatz sie auf ihrer Insel haben. Vielleicht werden die Aye-Aye irgendwann geschützt und nicht mehr gejagt und getötet. Wir hoffen, dass es bis dahin nicht zu spät ist.

Weitere Informationen zum Thema:

  • Découverte d’une dépouille de Aye-aye
    Lemur News 10, S. 6-7 | Madagaskar 2007 | Autor: Paul König
  • Et le massacre continue
    Lemur News 13, S. 6 | Madagaskar 2008 | Autoren: Paul König, Agathe Zavasoa
  • Gemordete Aye-aye am Galgen im Nordosten Madagaskars ausgesetzt
    Lemur News 13, S. 6-7 | Deutschland 2008 | Autoren: Frank Glaw, Miguel Vences, Roger D. Randrianiaina
  • Volkskunde und Glaube an die Aye-Aye
    Lemur News 6, S. 11-16 | USA 2001 | Autoren: Elwyn L. Simons, David M. Meyers

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